Text des Videos "Stress und Tunnelblick":
Was ist mit „Tunnel“ und „Tunnelblick“ gemeint? (Und was geschieht mit der Achtsamkeit?)
Wenn wir wach und entspannt sind, ist unsere Aufmerksamkeit weit offen: Alle Wahrnehmungen haben in ihr Platz. Wenn aber Stress aufkommt, dann verengt sich die Aufmerksamkeit. Die Muskeln spannen sich an, die Atmung wird schneller, und wir kommen in einen Tunnel.
Mit “Tunnel” meinen wir eine Fokussierung, durch die sich die Aufmerksamkeit verengt. Es war überlebenswichtig für unsere Vorfahren, einen Löwen im Blick zu behalten und nicht aus den Augen zu lassen. Die Aufmerksamkeit verengte sich und blendete alles aus, was uns vom Gegner ablenken konnte (die Umgebung, das Wetter usw.).
Der Sympathikus-Anteil unseres Nervensystems übernahm: Die Muskeln spannten sich an und machten sich bereit für körperliche Gewalt oder Flucht. Um die Energie dafür bereitzustellen, schüttete der Körper Stresshormone aus (Adrenalin und Noradrenalin, bei länger anhaltendem Stress Cortisol).
Der Organismus tauschte in solchen Situationen Ruhe, Überblick, Flexibilität und Lernbereitschaft gegen Anspannung und Kampfbereitschaft ein. Das half unseren Vorfahren zu überleben.
Und jetzt?
Heutzutage steht unser Überleben nur ganz selten auf dem Spiel, aber wir fühlen doch oft eine Bedrohung: Zum Beispiel scheint unsere Beziehung in Gefahr, unser Status, unser Arbeitsplatz …Dann kommt der Tunnel-Modus wieder zum Einsatz.
Es ist, als würde eine Lichtschranke durchschritten und eine Alarmanlage wird durch ein „No-Go“ ausgelöst: Eine Bedingung wird verletzt, zum Beispiel schenkt uns jemand nicht die Beachtung, die wir wollen, oder sagt etwas, das wir nicht hören wollen. Wir fokussieren auf die unerfüllte Bedingung: auf etwas, das wir ändern wollen, das wir haben oder loswerden wollen, und alles andere tritt in den Hintergrund des Erlebens. Wenn es nicht mit unserer Bedingung zu tun hat, erscheint es irrelevant und wird ausgeblendet.
In diesem Tunnel-Zustand verlieren wir das Empfinden von offener Weite und von Freiheit, Kreativität, Einfühlungsvermögen, Entspanntheit, Leichtigkeit, Flexibilität, Humor … All das ist außerhalb des Tunnels, außerhalb unseres Fokus. Die Aufmerksamkeit ist fixiert auf das, was wir als Bedrohung oder Störung empfinden.
Im Tunnel agieren wir eingeschliffene Verhaltensmuster aus; Routinen und Automatismen werden wiederholt, obwohl wir eigentlich wissen, dass sie uns nicht das bringen, was wir uns wünschen. Aber im Tunnel scheint es keine Alternative dazu zu geben; da sind wir wie eine Fliege, die immer wieder gegen die geschlossene Fensterscheibe stößt, um ins Freie zu kommen, weil sie das offene Fenster daneben nicht erkennt.
Nicht immer werden Tunnel so intensiv erlebt; oft erfahren wir keine Panik, sondern nur Unbehagen oder Nervosität, keinen Wutausbruch, sondern nur Gereiztheit: abgeschwächte Versionen desselben Themas, dem Bestehen auf einer Bedingung. Oft distanzieren wir uns von der Spannung, die dabei entsteht, indem wir uns ablenken oder betäuben (durch Medien oder Gedanken oder Alkohol …).
Eigentlich wollen wir den Tunnel wieder verlassen, um uns wieder frei und weit und entspannt zu fühlen. Nur scheint der einzige Weg dahin durch den Tunnel zu führen. Wir bestehen darauf, dass unsere Bedingung, unsere Vorstellung erfüllt wird. Es scheint, dass wir uns vorher nicht dem Moment öffnen könnten, nicht locker lassen könnten. Wir machen dicht, um uns vor den Gefühlen im Tunnel zu schützen, statt sie zu erleben. Aber so können wir nur die Vergangenheit wiederholen, in der der Tunnel entstanden ist und die wir auf die Gegenwart projizieren.
Das hilft!
Nur wenn wir ein Muster erkennen und bewusst erleben, kann es sich ändern. Nur wenn wir präsent und offen für das Tunnel-Erleben sind, nur wenn wir ihm Aufmerksamkeit schenken, kann es ein Update erfahren. In der Präsenz, im Licht der freundlichen, wohlwollenden Zuwendung, kann etwas Neues ins Spiel kommen.
Die Aufmerksamkeit kann sich öffnen für das, was gerade in uns vorgeht: für die Gefühle, die Spannung im Körper, in den Händen, im Gesicht und so weiter. Kampfbereitschaft kann sich in Lernbereitschaft verwandeln.
Neue Kommunikationskanäle entstehen, neue Informationen können fließen, ein Update kann kommen, ein Reset ins Jetzt. Die Vergangenheit muss nicht wiederholt werden.
Wenn der alte Schmerz des Tunnels jetzt liebevoll gefühlt wird, kann etwas in uns loslassen. Wenn die Härte, die Starre, die Fixierung gefühlt werden darf, dann kann sie schmelzen. Das ist einfach gesagt, und so einfach ist es auch. Nur erfordert es die Bereitschaft, für das eigene Erleben da zu sein und die Gefühle willkommen zu heißen, vor denen uns der Tunnel schützen wollte. Uns nicht davon zu distanzieren, uns nicht abzuwenden, sondern sich dem zu öffnen und das zu fühlen, was sich zeigt.
Das kann wehtun. Gleichzeitig können wir fühlen, wie weh es getan hat, uns selber das vorzuenthalten, was wir uns so dringend wünschen (und meistens bei anderen suchen): Bedingungslose, liebevolle Offenheit dafür, was wir gerade fühlen. Freundliches Interesse an uns und unserem Erleben, so wie es gerade ist.
Was sich in uns unerwünscht und fehl am Platz gefühlt hat, kann in dieser Erlaubnis nach Hause kommen, in diesem Verstehen, das keine Begründung braucht. Es kommt aus seiner Isolation heraus in den Fluss der ganzen Lebendigkeit, es kommt in Berührung mit Gegenwärtigkeit, mit freundlicher, warmherziger Offenheit, mit Liebe, mit uns. Wir öffnen uns der Offenheit, die wir sind. Wir können für uns da sein. Wir können im Jetzt aufgehen.
Das heißt nicht, dass mit einem Mal dieses Muster sich auflösen müsste, obwohl auch das sein kann. Die Gefühle können so intensiv sein, dass die Aufmerksamkeit zurückschreckt. Aber jedes Mal, jeder Moment, in dem der Stress freundlich aufgenommen wird, bringt Bewegung, Information, Lernen, Neues ins Spiel. Dinge kommen in Fluss, in den Fluss des Jetzt-Erlebens.
Offenheit ist nichts, das erzwungen werden kann, noch nicht einmal etwas, das erzeugt werden kann – und das muss sie auch nicht. Offenheit ist immer da, sie ist das Wesen des Bewusstseins. Die Bereitschaft zur Offenheit ist alles, was nötig ist. Wir finden in uns die Bereitschaft zu lernen, den Moment kennenzulernen, das Leben kennenzulernen, so wie es sich gerade durch uns zeigt. Und ebenso finden wir Verständnis für die alten Impulse, uns abzuwenden, zu kämpfen oder zu fliehen.
In diesem friedlichen Verständnis müssen sie nicht mehr ausagiert werden. Die ganze Aufregung kann sich legen und zur Ruhe kommen. Jedes Mal, wenn das gelingt, hat der Organismus den direkten Vergleich: So war es im Tunnel (eng, angespannt, gestresst), und so ist es in der verständnisvollen Offenheit (weit, entspannt, präsent, voller Selbst-Erlaubnis). Durch diesen Unterschied kann er lernen, seine alten „No-Gos“ zu überprüfen: Wie wichtig, wie ernst sind sie denn heute noch?, und er kann lernen, flexibel, wach und gelassen zu reagieren.
Einwände
Vielleicht kommt bei all diesen pazifistischen Beschreibungen der Einwand: „Dann lasse ich ja alles mit mir machen, Hauptsache ich bleibe entspannt?! Gebe ich dann meine Ziele auf? Lasse ich mich dann lächelnd herumschubsen?“
Aber genau dieses Gefühl, ausgeliefert zu sein und sich wehren zu müssen, ist ja im Tunnel einzementiert! Wie erfolgreich waren wir denn mit der Tunnel-Taktik? Haben wir wirklich das bekommen, was wir uns wünschen?
In der Gegenwart haben wir so viel intelligentere und effizientere Möglichkeiten, wir haben einen so viel größeren Handlungsspielraum!
Wozu sollten wir an einem alten, kaum wirksamen Werkzeug festhalten, wenn wir so viel bessere, wirkungsvollere neue Werkzeuge haben? Warum so viele Nebenwirkungen in Kauf nehmen, so viele unnötige Verletzungen auf allen Seiten?
Wenn uns das Ziel wichtig erscheint, dann ist es nur logisch, die bestmöglichen Werkzeuge einzusetzen, um es zu erreichen. Ist das Ziel wichtig genug, um auf den Tunnel zu verzichten? Und wenn es uns nicht so wichtig ist, wozu dann die ganze Aufregung? Wofür opfern wir dann Entspannung, Spaß, Frieden?
Jede Situation, in der wir bisher angespannt reagiert haben, ist eine Gelegenheit zu lernen, was sich ändert, wenn sich die Aufmerksamkeit sich weiten und neu ausrichten darf auf die kreative Intelligenz des Jetzt-Erlebens.